Wir haben unterschiedliche Politiker*innen zu ihrer Einschätzung zum humanitären Visum gefragt. Dieser Blogbeitrag ist Teil einer Reihe in der wir ausnahmsweise Politiker*innen das Wort überlassen.
Zur Person:
Ulla Jepke ist Mitglied des Bundestages und dort seit 2005 innenpolitische Sprecherin der Linksfraktion. Ihre politische Karriere begann sie in der 68er-Bewegung und setzte sie in der autonomen Frauen- und später in der Umwelt- und Friedensbewegung fort. Die Schwerpunkte ihrer Arbeit im Bundestag sind Migrations- und Flüchtlingspolitik, Sicherheitsgesetze und Verteidigung von Grundrechten, Antifaschismus und Menschenrechtsfragen. (Quelle: http://www.ulla-jelpke.de/zur-person/)
Befürworten Sie ein humanitäres Visum und wenn ja, warum?
Ich trete entschieden für humanitäre Visa ein, die von den Botschaften an Schutzsuchende vergeben werden. In Fällen, in denen schwerste Menschenrechtsverletzungen drohen, sollten die diplomatischen Vertretungen hierzu verpflichtet sein, wie es der Generalanwalt beim EuGH, Mengozzi, gefordert hat – leider vergebens. Es ist gerade heute eine absolute Notwendigkeit, dass Schutzsuchenden legale Wege nach Europa geöffnet werden. Dass sich die Bundesregierung dagegenstellt, ist auf beschämende Weise konsequent in der Logik ihrer flüchtlingsfeindlichen Asylpolitik. Wer gegen ein humanitäres Visum ist, der kann auch offen zugeben, dass er gegen das Recht auf Asyl in Europa ist. Denn es ist zynisch, nur denen, die die Reise nach Europa überlebt haben, die Möglichkeit auf Stellung eines Asylantrags einzuräumen. Im letzten Jahr sind durch die Abschottungspolitik der EU sind im Jahr 2016 mit über 5.000 Toten, mehr Menschen denn je auf der Flucht über das Mittelmeer gestorben. Dieser furchtbare Trend scheint sich auch 2017 fortsetzen. Insofern stellt das EUGH-Urteil vom 07. März, in dem die Verpflichtung von EU-Botschaften für die Ausgabe von humanitären Visa abgelehnt wurde, auch einen Rückschlag für eine menschlichere Flüchtlingspolitik dar.
Was sind Vorteile aber auch kritikwürdige Punkte eines humanitären Visums?
Humanitäre Visa sollten eine Selbstverständlichkeit sein, denn nur so kann ein sicherer Zugang zum Asylverfahren in den europäischen Ländern gewährleistet werden. Allerdings steht und fällt der Sinn der Sache mit der Entscheidungspraxis in den Botschaften. Nur eine großzügige Entscheidungspraxis in den Botschaften kann ein gerechtes Asylverfahren in den jeweiligen Aufnahmeländern gewährleisten. Eine solche Entscheidungspraxis ist nur durch eine Verpflichtung der Botschaften zur großzügigen Ausstellung solcher Visa zu gewährleisten. Ansonsten besteht die Gefahr, dass die Botschaften weiterhin die ersten großen Hürden des Abschottungssystems bleiben und die Bundesregierung so einen Vorstoß nutzt um große Teile des Asylverfahrens in die Herkunftsländer oder Durchreiseländer zu verlegen. So muss von vorneherein klar sein, dass es ein humanitäres Visum für alle Schutzsuchenden geben muss, um ein gerechtes Asylverfahren in Europa durchzuführen.
Setzen Sie sich aktuell dafür in ihrer politischen Arbeit ein?
Ich setze mich politisch immer wieder für humanitäre Visa ein, die eine Alternative zum weiteren Ausbau des Abschottungsregimes der Festung Europa darstellen –aber eben auch für andere Möglichkeiten der legalen und sicheren Einreise von Schutzsuchenden (Einreise über Aufnahmeprogramme, Resettlement, keine Zurückweisungen an den EU-Außengrenzen usw.). Wir müssen uns doch auch die Frage stellen – neben den zentralen menschenrechtlichen und moralischen Fragen –, wieviel an Steuermitteln man denn noch für die überbordende Abschottung Europas ausgeben möchte und ob man wirklich in einem militarisierten Europa leben will, in dem Bürgerrechte wie auch Menschenrechte zu Gunsten von autoritären Law-and-Order-Regimen aufgegeben werden.
Wie bewerten sie die aktuelle politische Konstellation für die Chancen einer Einführung des humanitären Visums?
Schwierig. Die Bundesregierung kann sich nun leider auf das negative Urteil des EuGH zu humanitären Visa berufen. Dabei muss man aber klarstellen, dass der EuGH lediglich festgestellt hat, dass die humanitären Visa für Schutzsuchende (noch) nicht in EU-Kompetenz liegen. Das heißt, bereits nach geltendem Recht steht es allen EU-Mitgliedstaaten frei, solche humanitären Visa für Schutzsuchende auszustellen – und hier muss der politische Druck auf die Bundesregierung und andere Regierungen in Europa aufrecht erhalten werden. Auch das Europäische Parlament setzt sich für eine Ausweitung der Ausstellung humanitärer Visa ein, wird dabei jedoch von den Regierungen ausgebremst. Es gilt also, auf nationalen und europäischer Ebene für sichere Einreisemöglichkeiten für Flüchtlinge zu kämpfen!
Was müsste passieren damit sich die aktuelle politische Situation ändert?
Es müssen die Karten auf den Tisch gelegt werden, denn niemand flieht ohne Grund. Krieg, Klimawandel, die Folgen postkolonialer sowie kolonialer Entwicklungen und neoliberaler Handelsabkommen sowie viele andere Fluchtgründe werden häufig gerade von den Ländern ausgelöst, die sich jetzt abschotten. Das bedeutet, dass meines Erachtens echte Fluchtursachenbekämpfung etwas mit einer grundsätzlichen Änderung der Außen- und Wirtschaftspolitik zu tun haben muss.
Es muss eine klare Kante gegen Rechts gezeigt werden. Statt bei der Vermischung von Flüchtlingspolitik und Sicherheitspolitik mitzumachen müssen wir für menschliche Werte und eine solidarische und offene Gesellschaft eintreten. Es ist wichtig, immer wieder die Hetze und die Falschmeldungen – sei es von der Regierungsbank oder der AfD – zu entlarven. Nur durch eine Änderung des politischen Klimas kann auch die politische Situation verändert werden. Dass dies möglich ist, hat die „Willkommenskultur“ von Unten deutlich gezeigt.
Was erwarten sie von Akteuren aus der Zivilgesellschaft? Welche Rolle könnten diese übernehmen?
Zunächst einmal ist es wichtig festzustellen, dass sich der Staat sich in der Flüchtlingshilfe ganz klar zu Lasten der Zivilgesellschaft aus der Verantwortung gezogen hat. Ob es um Betreuung, Beratung, Bildung bis hin zur medizinischen Betreuung von Flüchtlingen geht, überall wird die Zivilgesellschaft oft ehrenamtlich oder kaum bezahlt bemüht. Die medizinische Versorgung Illegalisierter findet nahezu ausschließlich durch Freiwillige statt, welche die Behandlungen auch selbst zu finanzieren haben. Sogar im Bereich Seenotrettung ist es schon so weit, dass 40% Rettungen von mutigen Engagierten zivilen Rettern durchgeführt werden. Es ist nun am Staat ein humanitäres Visum als einen legalen, sicheren Weg nach Deutschland einzuführen.
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